Mangelhafte Interessenabwägung beim Streit um Einsicht in archivierte Asylakten

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Urteil des Bundesgerichts stellt hohe Anforderungen an Bundesbehörden

Franz Zeller, Prof. Dr. iur., Bern

Résumé: Le point controversé de l’arrêt présenté est le droit de consulter des archives dans le domaine de l’asile. La loi fédérale sur l’archivage prévoit une pesée d’intérêts par l’autorité fédérale concernée. Le Tribunal fédéral a estimé que cette évaluation n’était pas correcte et il l’a annulée. Selon cet arrêt, il faut distinguer entre une simple consultation d’archives et la publication éventuelle d’informations sensibles. Une protection justifiée de personnes concernées ne doit pas mener systématiquement à un blocage de l’accès aux documents, car une publication de données sensibles peut avoir des conséquences en droit civil ou même pénal.

Zusammenfassung: Streitpunkt des besprochenen Urteils ist die Einsicht in archivierte Asylakten. Das Bundesgesetz über die Archivierung sieht dafür eine Interessenabwägung durch die zuständige Bundesbehörde vor. Das Bundesgericht hat diese als fehlerhaft taxiert und aufgehoben. Gemäss dem Urteil ist zwischen der blossen Einsichtnahme und einer allfälligen Publikation heikler Informationen zu unterscheiden. Berechtigte Schutzbedürfnisse des Betroffenen sollten nicht reflexartig zur Sperrung des Zugangs führen, denn immerhin könne eine Veröffentlichung sensibler Angaben zivil- und gar strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

https://medialex.ch/Urteil-BGer 1C_117/2021 vom 1. März 2022 (zur Publikation vorgesehen)

1. Sachverhalt

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Der Historiker A. arbeitet an der Universität Freiburg an einem Dissertationsprojekt über die Asylbewegung und -politik („Die andere Schweiz. Asyl und Aktivismus, ca. 1970-2000“). Dabei befasst er sich mit dem aus dem damaligen Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) stammenden Philosophen Mathieu Musey. Die Ereignisse rund um Museys 1985 abgelehntes Asylgesuch, das jahrelange Untertauchen der Familie im Jura, die Festnahme und die anschliessende Ausschaffung prägten die damalige Asylpolitik und waren auch Gegenstand politischer Kontroversen.

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Am 19. März 2018 ersuchte A. das Schweizerische Bundesarchiv um Einsichtnahme in die Akten verschiedener Bundesbehörden. Der Doktorvater des Historikers bestätigte die grosse Bedeutung der fraglichen Akten für die Doktorarbeit. Mit Verfügung vom 16. November 2018 gewährte das dafür zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) lediglich Einsicht in die Zeitungsartikel, die in Museys Asyldossier abgelegt waren. Eine Einsicht in die übrigen Akten des Dossiers lehnte das SEM ab. Da das Archivgut besonders schützenswerte Personendaten enthalte, gelte die verlängerte Schutzfrist von 50 Jahren (Ablauf grundsätzlich erst 2046). Zwar erlaube Art. 13 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Archivierung (Archivierungsgesetz, BGA, SR 152.1) eine vorzeitige Einsichtnahme, falls keine überwiegenden schutzwürdigen öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen. Der Persönlichkeitsschutz der betroffenen Personen gehe jedoch dem Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte vor. Es liege auch nicht von allen im Dossier erwähnten Familienmitgliedern eine Einwilligung vor.

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Gegen die Verfügung des SEM beschwerte sich der Doktorand vergeblich beim Bundesverwaltungsgericht. Es wies seine Beschwerde am 21. Januar 2021 ab (Urteil C-115/2019). Die Voraussetzungen für die vorzeitige Einsichtnahme seien nicht erfüllt. Gegen die Einsicht in die Asylakten sprächen überwiegende private Interessen von Musey und erst recht seiner Familienmitglieder, die durch das Einsichtsgesuch ebenfalls betroffen seien. Für die Veröffentlichung von Angaben aus den archivierten Akten gebe es vor Ablauf der 50-jährigen Schutzfrist kein genügendes Informationsinteresse (E. 4.3.3). Auf die Forschungsfreiheit (Art. 20 der Bundesverfassung, BV) könne sich A. im vorliegenden Zusammenhang nicht berufen, denn die Fragestellung, Methode und Durchführung seines Dissertationsprojektes seien nicht zentral von der verlangten Einsicht in die archivierten Asylakten abhängig. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit sei folglich nicht berührt und A. könne aus Art. 20 BV nichts zu seinen Gunsten ableiten (E. 4.3.4).

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A. gelangte mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht. Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung hiess seine Beschwerde am 1. März 2022 gut und wies die Sache zur Neubeurteilung an das Bundesverwaltungsgericht zurück.

2. Aus den Erwägungen

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Laut Bundesgericht bemängelt A. zu Recht, dass das Bundesverwaltungsgericht keine umfassende Interessenabwägung vorgenommen hat (E. 6). Laut den höchstrichterlichen Ausführungen gilt dies sowohl hinsichtlich der Interessen des Wissenschaftlers, die für eine Einsicht sprechen (Einsichtsinteresse des Doktoranden), als auch bezüglich der einer Einsicht entgegenstehen privaten Interessen (Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Personen). Beide Aspekte habe die Vorinstanz nicht hinreichend geprüft.

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Die Aufarbeitung der Geschichte ist gemäss Bundesgericht ein gewichtiges Einsichtsinteresse, das in die Abwägung einfliessen muss. Es gebe ein legitimes Bedürfnis der Öffentlichkeit an der Aufarbeitung der kollektiven Vergangenheit, das nicht durch eine Behinderung des Zugangs zu Quellen unterbunden werden sollte (E. 6.4). Das Bundesverwaltungsgericht habe fälschlicherweise darauf abgestellt, dass das Archivierungsgesetz kein Wissenschaftsprivileg kennt. Auf ein solches Privileg wurde laut Bundesgericht aber nur verzichtet, weil die Grenzziehung zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Auswertung problematisch und letztlich nicht überprüfbar ist. Im Sinne der Informationsfreiheit bringe dies zum Ausdruck, dass die Archiveinsicht grundsätzlich allen frei zu gewähren sei. Dies konstatiert das Bundesgericht unter Hinweis auf die Botschaft zum Archivierungsgesetz (BBl 1997 II 962) und auf BGE 127 I 145 I E. 4c/bb (Wottreng). Entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts sei die Wissenschaftsfreiheit des Doktoranden sehr wohl berührt und müsse gebührend in die Güterabwägung einfliessen (E. 6.6).

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Zu wenig differenziert sind für das Bundesgericht auch die Ausführungen der Vorinstanz zu den Geheimhaltungsinteressen. Sie berücksichtigte nicht genügend, dass Musey als relativ bekannte Persönlichkeit die öffentliche Aufmerksamkeit gesucht habe. Er habe viele geheime und private Informationen über sein Asylverfahren und seine Lebensumstände selbst an die Öffentlichkeit getragen (u.a. in einer 1988 publizierten Autobiographie), was sein Interesse an einer möglichst grossen Publizität belege. Durch Museys aktive Kommunikation und einen Bericht der Geschäftsprüfungskommission an den Nationalrat (BBl 1989 II 545 ff.) seien viele sensible Details bereits öffentlich zugänglich gewesen. Der 2021 verstorbene Musey hatte in seinen letzten Lebensjahren der Einsicht in das Asyldossier schriftlich (wenn auch ohne die erforderliche Kopie eines amtlichen Ausweises) zugestimmt, was das Bundesgericht zumindest als Indiz für Museys Interesse an einer weiteren Erörterung seines Falles interpretiert. Das Bundesgericht anerkennt hingegen, dass die Publikation bestimmter archivierter Informationen die in der Demokratischen Republik Kongo lebenden Familienmitglieder gefährden könnte. Dies müsse das Verwaltungsgericht nun näher abklären und dazu bei Bedarf das umstrittene Dossier sichten (E. 6.8). Der allgemeine Hinweis der Vorinstanz auf die «volatile» Situation im Heimatstaat genüge jedenfalls nicht (E. 6.5.4).

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Bei seiner Güterabwägung habe das Bundesverwaltungsgericht auch ausser Acht gelassen, dass das Problem der Persönlichkeitsverletzung vor allem bei der Veröffentlichung des Archivguts liegt, kaum aber bei der blossen Einsichtnahme zu wissenschaftlichen Forschungszwecken (E. 6.5.5). Zum Schutz der Privatsphäre könne die Einsicht gewährende Behörde allenfalls Auflagen machen. Dies ergebe sich klar aus der Botschaft zum Archivierungsgesetz und auch aus dem Prinzip der Verhältnismässigkeit. Überdies müssten auch Forschende den privat- und strafrechtlichen Persönlichkeitsschutz respektieren. Gegen die allfällige Veröffentlichung problematischer Informationen spricht für das Bundesgericht vorliegend der Umstand, dass der Doktorand primär an der Handhabung der Affäre Musey durch die Behörden interessiert scheine und weniger an den Details des Privatlebens seiner Familie. Sollte A. dennoch heikle Angaben publizieren, so geschehe dies im Rahmen einer durch einen Universitätsprofessor betreuten, nach anerkannten Forschungsregeln verfassten Doktorarbeit. Dies sollte laut Bundesgericht garantieren, dass die publizierten Informationen nicht aus ihrem Kontext gerissen und einseitig manipuliert werden (E. 6.6). 

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Der Doktorand argumentierte überdies, Musey gehöre zur Kategorie der Personen der Zeitgeschichte. Hinsichtlich ihrer Tätigkeit in der Öffentlichkeit können bei ihnen gemäss Art. 18 Abs. 4 der Verordnung zum Bundesgesetz über die Archivierung (Archivierungsverordnung, VBGA, SR 152.11) keinerlei überwiegende private Interessen gegen die Einsicht ins Feld geführt werden. Nach den ausführlichen Erörterungen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung (E. 5) ist Musey weder eine absolute noch eine relative (im Zusammenhang mit einem konkreten aussergewöhnlichen Ereignis ins öffentliche Blickfeld getretene) Person der Zeitgeschichte. Das Gericht erinnert allerdings an mehrere Urteile der zivilrechtlichen Abteilung, wonach die starre Einteilung in absolute und relative Personen der Zeitgeschichte für «relativ bekannte Persönlichkeiten» unzulänglich ist. Solche Menschen fallen zwar nicht unter Art. 18 Abs. 4 VBGA, doch wiegen ihre privaten Interessen in der Abwägung leichter als jene einer Durchschnittsperson. Auch diesen Aspekt wird das Bundesverwaltungsgericht bei der nun fälligen Neubeurteilung zu bedenken haben.

3. Anmerkungen 

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Das oben beschriebene Urteil zur Einsicht in archivierte Asylakten ist zur Publikation in der amtlichen Sammlung höchstrichterlicher Entscheide (BGE) vorgesehen, und dies aus guten Gründen: Der im Ergebnis überzeugende Entscheid ist nicht nur aus der Perspektive der historischen Forschung von grundlegender Tragweite. Er entwickelt die Grundsätze weiter, die das Bundesgericht 2001 im bahnbrechenden Urteil BGE 127 I 145 aufgestellt hatte (Einsicht des Historikers Willi Wottreng in archivierte Strafakten über den Gründer der Rockergruppe «Hell’s Angels Switzerland»). Wottrengs Einsichtsgesuch hatte sich nicht an das Schweizerische Bundesarchiv gerichtet, sondern an das Obergericht des Kantons Zürich. Das Bundesgericht überprüfte die kantonale Einsichtsverweigerung damals bloss unter dem Blickwinkel des Willkürverbots, denn Willi Wottreng könne sich weder auf die Informationsfreiheit berufen (Art. 16 Abs. 3 BV) noch auf die in Art. 20 BV garantierte Wissenschaftsfreiheit (während E. 7 der vorliegenden Urteilsbegründung dieses Grundrecht fast beiläufig als betroffen bezeichnet, weshalb es gebührend in die Interessenabwägung einzufliessen habe).

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Die aktuelle Streitigkeit um die Einsicht in die Asylakten dreht sich um die Anwendung des eidgenössischen Gesetzesrechts. Das Bundesgesetz über die Archivierung sieht eine Interessenabwägung durch die zuständige Bundesbehörde vor (Art. 13 Abs. 1 lit. b BGA). Das Bundesgericht hat diese umfassend überprüft, als fehlerhaft taxiert und wegen Verletzung des Bundesrechts aufgehoben.

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Zumindest einzelne Überlegungen des höchstrichterlichen Urteils sind geeignet, über das Archivierungsgesetz hinaus allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen. Sie können künftige Güterabwägungen vorspuren, welche die Behörden gestützt auf Vorschriften im kantonalen Recht oder in anderen eidgenössischen Erlassen (z.B. dem Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung, BGÖ) vorzunehmen haben.

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Verallgemeinerungsfähig ist die Überlegung, dass zwischen der blossen Einsichtnahme und einer allfälligen Publikation heikler Informationen zu unterscheiden ist. Es handelt sich um eine zentrale Weichenstellung. Berechtigte Schutzbedürfnisse des Betroffenen sollten nicht reflexartig zur Sperrung des Zugangs führen, sondern primär dort zum Tragen kommen, „wo das Problem wirklich liegt, nämlich bei der Veröffentlichung des Archivguts“ (E. 6.4). Das Bundesgericht betont denn auch, dass der gewährte Zugang zu Archivdaten kein Freipass für die Publikation all dieser Informationen sein darf. Vielmehr kann eine Veröffentlichung sensibler Angaben zivil- und vielleicht gar strafrechtliche Konsequenzen haben.

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Mit diesem Ansatz befindet sich das Bundesgericht auf der Linie der Strassburger Rechtsprechung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat betont, das Recht auf Zugang zu Dokumenten umfasse nicht per se den Anspruch, sie uneingeschränkt zu veröffentlichen. Die Grosse Kammer des EGMR stützte deshalb am 27. Juni 2017 im Urteil N° 931/13 „Satakunnan Markkinapörssi Oy + Satamedia Oy c. Finnland“ ein von der finnischen Datenschutzbehörde ausgesprochenes Verbot der Veröffentlichung von persönlichen Steuerdaten in grossen Mengen. Für den EGMR spielte es eine wesentliche Rolle, dass die Publikation nicht als (journalistischer) Beitrag zu einer Diskussion von öffentlichem Interesse einzustufen war. Vielmehr bediente die massenhafte Verbreitung von unveränderten, ohne jede analytische Aufbereitung publizierten Rohdaten die allgemeine Gier nach Informationen über das Privatleben der Mitmenschen und förderte damit Sensationslust oder gar Voyeurismus.

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Die eben geschilderten Ausführungen des Gerichtshofs weisen auf eine weitere Differenzierung hin, die auch das Bundesgericht vornimmt: Neben dem Ob ist das Wie einer allfälligen Publikation von Archivdaten relevant. Einer nach anerkannten Forschungsregeln verfassten und von einem ausgewiesenen Fachmann betreuten Dissertation schreibt das Bundesgericht ein geringeres Schadenspotenzial zu als etwa einer Boulevardzeitung (so auch die Argumentation im EGMR-Urteil N° 44102/04 „Sapan c. Türkei“ vom 8. Juni 2010, Ziff. 34). Der Gerichtshof hat bei seinen Güterabwägungen auch schon darauf abgestellt, ob ein Medium für seine Glaubwürdigkeit und seine Sorgfalt bekannt ist: Im Urteil N° 34124/06 „SRG c. Schweiz“ vom 21. Juni 2012 (von den Behörden abgelehntes Fernsehinterview mit einer Insassin der Strafanstalt Hindelbank) berücksichtigte der EGMR den Umstand, dass die Fernsehsendung „Rundschau“ eine Reputation als sehr seriöses Sendegefäss geniesse (Ziff. 56). Amtliche Spekulationen über den vermutlichen Inhalt privater Publikationen sind allerdings problematisch. Zum einen ist gerade bei abwertenden Äusserungen über die zu erwartende Qualität bestimmter Medienkategorien richterliche Zurückhaltung angezeigt. Zum anderen hat das Abstellen auf das Publikationsorgan selbst dann Grenzen, wenn es auf objektivierbaren Überlegungen beruht (wie etwa dem geringeren Zeitdruck oder der Existenz etablierter Mechanismen der Qualitätskontrolle). Oft hängt es nicht von der Seriosität der Publikation ab, ob letztlich Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Die Brisanz und das Schadenspotenzial bestimmter Archivangaben braucht den Publizierenden gar nicht bewusst zu sein, zumal sich die Enthüllung sensitiver Informationen erst längere Zeit nach der Veröffentlichung schädlich auswirken kann.

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In der Urteilsbegründung finden sich weitere Anhaltspunkte für die gebotene Abwägung der Interessen. Dazu gehören die Frage des bisherigen Verhaltens der vom Einsichtsgesuch direkt betroffenen Privatperson, aber auch die absehbaren Auswirkungen einer allfälligen Publikation auf die ebenfalls geschützten Persönlichkeitsrechte ihres näheren (z.B. familiären) Umfelds. Einmal mehr verlangt das Bundesgericht, dass sich die über den Zugang zu Informationen entscheidenden Behörden nicht mit dürftig begründeten Allgemeinplätzen begnügen. Statt einer Verweigerung jeglicher Einsicht haben sie stets mildere Massnahmen wie einzelne Schwärzungen besonders heikler Informationen ins Auge zu fassen. Wichtig ist die im Archivrecht bestehende Möglichkeit, die Einsicht an Auflagen zu knüpfen. Sie erlaubt den Behörden im jeweiligen Einzelfall, die Einsichtsverweigerung auf das zum Schutz der sensitiven Daten strikt Erforderliche zu beschränken.

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Die von der zuständigen Amtsstelle geforderte, sorgfältige Prüfung aller auf dem Spiel stehenden Aspekte dient dazu, den Umständen des jeweiligen Einzelfalls möglichst optimal Rechnung zu tragen. Der geforderte Balanceakt ist häufig komplex und aufwändig. Er kann gerade die rechtsanwendenden Behörden unterer Instanzen vor eine (zu) anspruchsvolle Aufgabe stellen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die einzelfallweise Interessabwägung bereits auf Verordnungsebene punktuell durch möglichst klare, der Rechtssicherheit dienliche Vorgaben erleichtert werden soll. Dazu gehört der Grundsatz in Art. 18 Abs. 4 der Archivierungsverordnung, wonach bei Personen der Zeitgeschichte hinsichtlich ihrer Tätigkeiten in der Öffentlichkeit eine Güterabwägung entfällt, weil dem Einsichtsinteresse „keine überwiegenden privaten Interessen entgegengestellt werden“ können. Das vorliegende Verfahren zeigt exemplarisch den beschränkten Nutzen an und für sich erwünschter Leitplanken auf: Bundesgericht und Bundesverwaltungsgericht sind sich einig, dass die generell-abstrakte Unterscheidung zwischen Personen der Zeitgeschichte und dem Rest der Menschheit die Wirklichkeit zu holzschnittartig erfasst (und überdies die berechtigten Interessen der Familienmitglieder ausblendet). Solche rudimentären Kategorisierungen mögen die Orientierung etwas erleichtern. Sie erlauben es aber oft nicht, die Tücken der komplexen Güterabwägung zielsicher zu umschiffen.

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